Schlangestehen für den Gottesdienst: Die evangelische Gemeinde feiert im Kirchhof Pfingsten – „das unterschätzte Fest“.
Von René Granacher
STOCKSTADT – Nicht mehr drinnen verkriechen, sondern hinausgehen: Was beim Pfingstwunder als Auftrag an Jesu Jünger erging, nahm sich am Pfingstsonntag auch die evangelische Gemeinde zu Herzen. Statt in der Kirche feierte sie ihren Gottesdienst draußen, nämlich unter den Kastanienbäumen des Kirchhofs. Mit Corona-Abstand waren dort Bänke und Stühle aufgestellt, vorne ersetzte ein geschmückter Tisch den Altar.
Die Kirchenorgel hatte ihren angestammten Platz nicht verlassen, sondern an einer elektronischen Orgel begleitete Michael Tagliente die Feier. Mit Verstärkung durch eine gute Tonanlage kamen seine Melodien ebenso bis in die letzte Reihe wie die Worte von Pfarrer Hans Jürgen Basteck. Aus der Apostelgeschichte lasen Paul Prigionieri und Roger Funk, Mitglieder des Kirchenvorstands.
Dessen Vorsitzender Richard Hefermehl freute sich über den großen Zuspruch: „Dass die Leute Schlange stehen, um zum Gottesdienst zu dürfen, das hat man auch nicht alle Tage.“ Tatsächlich war das Stockstädter Pfingst-Ereigniss mit etwa 60 Gläubigen so gut besucht, dass zusätzliche Stühle herangeholt werden mussten. Die Schlange am Hofeingang war freilich auch darauf zurückzuführen, dass sich jeder Teilnehmer in eine Liste eintragen musste und dann noch zu Desinfektionsmittel greifen durfte.
Ein Gottesdienst an diesem Ort sei tatsächlich eine Premiere, erklärte Pfarrer Basteck: Draußen gefeiert habe man zwar schon, etwa auf dem Kühkopf oder im Schwimmbad, aber noch nie an diesem so naheliegenden Ort. Gerade zu Pfingsten hat es sonst Kühkopf-Gottesdienste gegeben, die in diesem Jahr durch das neue Format ersetzt wurden. Dass die Feier wenig Störung von außen erfuhr, war auch dem stark reduzierten Flugverkehr zu verdanken.
Basteck fand Verbindungen zwischen dem Pfingst-Ereignis zu Jerusalem, das als Geburtsstunde der christlichen Kirche gilt, und der aktuellen Situation. Er sprach vom frischen Wind, der damals als Heiliger Geist wehte und heute in Köpfen und Kirche wieder nötig sei. Ein Geschenk Gottes seien auch verbindende Worte zwischen den Menschen – wie damals, als die Jünger plötzlich zu allen Völkern in ihren Sprachen redeten.
Den Geist Gottes verglich er mit einem brausenden Wind, der gleichwohl nicht zerstöre, sondern im Gegenteil die nötige Luft zum Atmen sei. In Zeiten von Schutzmasken merkten die Menschen wieder, wie wichtig freies Atmen sei. Das Sprachwunder symbolisiere zudem, dass ein gemeinsamer Glaube stärker ist als kulturelle Unterschiede.
Miteinander reden, aufeinander hören, auch wenn man verschiedener Meinung ist – etwa zum Thema Corona: Da gab es wieder einen Brückenschlag. So wurde die Botschaft der Apostelgeschichte sehr aktuell und die Erweckung durch den Geist ein Vorbild für einen nötigen Aufbruch der heutigen Christen. „Darum ist Pfingsten eigentlich ein unterschätztes Fest“, schloss Basteck, „und hätte uns ebenso viel zu sagen wie Weihnachten oder Ostern.“
Zum Umgang mit Krisen kam noch der Dichter und Komponist Joachim Neander aus dem 17. Jahrhundert zu Wort. Nach der europäischen Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges hielt er sich nicht mit Jammern und Klagen auf, sondern freute sich über Gottes Liebe, dankte für Geborgenheit im Glauben und die Schönheit der Welt. Die Gemeinde musste sich beherrschen, um bei Neanders bekanntestem Text, dem Kirchenlied „Lobe den Herren“, nicht trotz Corona-Regeln mitzusingen.